Modellgemeinde 2019-2025

Wie eine Dresdner Kirchgemeinde sich anschickt, Zukunftsmodell für die Gesellschaft zu werden

Es braucht Wirtschaftsmodelle jenseits des Wachstumszwangs, damit der Klimakollaps verhindert wird und der Umbau zu einer zukunftsfähigen globalen Gesellschaft gelingt. Christ*innen und christliche Gemeinden können dabei eine Schlüsselrolle spielen. Denn sie verfügen über Utopienkompetenz. Erste Ansätze sind in einer Kirchgemeinde in Dresden erlebbar.

Alle reden von der Großen Transformation – doch niemand will so richtig ran. Irgendwie, so scheint die Hoffnung zu bestehen, kriegen wir beides: den großen Wurf hin zu echter Klimagerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit – UND ein entspanntes Weiter-So. Vielleicht, so das heimliche Daumendrücken wider besseres Wissen, klappt es mit der größten gesellschaftlichen Umwälzung seit der Industriellen Revolution doch ohne echte, tiefgreifende Einschnitte und Neuansätze, quasi unmerklich. Das Unsagbare traut sich kaum jemand auszusprechen: Mit munter weiterwachsender Wirtschaft wird es das nicht geben.

Dabei ist spätestens seit dem vor einem halben Jahrhundert veröffentlichten Bericht des Club of Rome deutlich, dass es „Grenzen des Wachstums“ braucht; dass ein „Weiter so, nur anders“ unvereinbar ist mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen; und dass eine absolute Entkopplung des uns so wohlig vertrauten anhaltenden Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch nachweislich nicht zu erreichen ist. Spätestens der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die daraus resultierende Energiekrise zeigen uns in ungeahnter Drastik die Anfälligkeit und die Grenzen unseres fossilen Wohlstands- und Wachstumsmodells auf.


Freilich werden wir nach menschlichem Ermessen in dem winzigen Zeitfenster, das uns noch zur Verfügung steht, um die Klimakatastrophe wenigstens noch einigermaßen zu begrenzen und den Planeten zumindest in den meisten Bereichen bewohnbar zu erhalten, den Komplettumbau zu einer voll ausdifferenzierten globalen Postwachstumsgesellschaft nicht schaffen. Deshalb müssen wir auch alle Hebel und Stellschrauben, die uns INNERHALB des bestehenden Systems zur Verfügung stehen, so weit wie möglich nutzen, um den großen äußeren Rahmen, der allem Sozialen und Wirtschaftlichen gesetzt ist, die Biosphäre, zu bewahren.

Und gleichzeitig brauchen wir nicht irgendwann, sondern jetzt eine Haltung, die in eine ganz klar andere Richtung weist, damit wir noch ein „change by design“ und kein „change by desaster“ hinbekommen. Wir brauchen nicht irgendwann, sondern jetzt die Experimente, jetzt die Neuansätze, jetzt die Freiräume, um die alternativen Konzepte für eine Gesellschaft jenseits des Wachstums, die großenteils schon längst vorliegen, in der Praxis zu erproben und sozusagen „serienreif“ zu bekommen – und zwar auf allen Ebenen.

Was die Große Transformation so schwierig macht, ist: Wir versuchen, an einen Ort zu kommen, den wir noch nicht kennen. Wir beschäftigen uns im wahrsten Sinn des Wortes mit einer Utopie – also einem Ort, der noch nicht existiert.

In diesem Zusammenhang kommt Kirche ins Spiel. Als Leute, die zu Jesus Christus gehören und ihm vertrauen, wissen wir um eine Alternative zu dieser Welt und leben auf sie hin. Was uns Christ*innen geschenkt ist, ist Utopienkompetenz: Wir sind durch Gottes Gnade Expert*innen, wenn es darum geht, an einen Ort zu kommen, den wir noch nicht sehen.

Aus dieser Grundhaltung und Bewegungsfreiheit heraus können wir als Kirche, neben den nötigen öffentlichen Forderungen gegenüber Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, durch Avantgarde-Projekte Erfahrungs- und Erprobungsräume für alternatives Leben und Wirtschaften in einer Postwachstumsgesellschaft etablieren und konsequent fördern. Denn wir brauchen Orte, an denen Menschen eine Ahnung bekommen: Ja, so könnte es anders gehen. So kann eine Gesellschaft jenseits des Wachstums aussehen. So fühlt sich das an, so riecht und schmeckt das!

Einen Ansatz in dieser Richtung verfolgt seit einigen Jahren die 2011 in Sachsen gegründete christliche Initiative „anders wachsen“. Sie identifiziert das unbegrenzte Wirtschaftswachstum und die dahinterstehende Ideologie als eine der größten Herausforderungen für Kirche und Theologie der Gegenwart. Und sie stellt fest: Die Auseinandersetzung damit muss dort erfolgen, wo Kirche und Theologie konkret werden – in der Gemeinde vor Ort, in der Christus in dieser Welt gegenwärtig ist.

So entwickelt sich die Idee einer „anders wachsen“-Gemeinde – sozusagen im Sinne des Mottos von Willow Creek: „The local church is the hope of the world“. Seit 2019 ist die Evangelisch-Lutherische Johanneskirchgemeinde in der Dresdner Johannstadt (inzwischen Kirchgemeinde Johannes-Kreuz-Lukas) auf dem Weg, eine solche Modellgemeinde zu werden. Seit 2022 begleitet Referent Johannes Springsguth die Gemeinde bei der Profilierung zur „anders wachsen“-Gemeinde.

Die Gemeinde will nicht mehr warten, bis sich die Gesellschaft ändert, sondern macht sich auf den Weg, diese neue Gesellschaft selbst abzubilden. In der Selbstverpflichtung des Kirchenvorstands heißt es: „Im Bewusstsein für die heilsamen Grenzen, die Gott uns Menschen schenkt, wollen wir als Kirchgemeinde uns der falschen Vorstellung vom grenzenlosen Wirtschaftswachstum widersetzen, (…) exemplarisch Formen des alternativen Wirtschaftens erproben und befördern.“

Bei allem, was in der angehenden „anders wachsen“-Gemeinde geschieht, ist der tragende Grundton entscheidend: die Hoffnung auf Jesus Christus, der uns befreit aus unserem Zwang, unser Dasein selbst zu rechtfertigen und uns unser Heil zu erarbeiten; und die Hoffnung auf das Reich Gottes, auf die neue Welt des Friedens und der Gerechtigkeit, die mitten unter uns anbricht.


Und das wird schnell sehr konkret: Vor dem Gemeindehaus erblüht auf einer bisher ungenutzten Wiese ein „GemeindekinderGARTEN“ – eine Wiese mit Beeten und Sträuchern, gemeinsam gepflegt von Eltern und Kindern. Taizégebete, Exerzitien zur Schöpfungsbewahrung und Versuche mit Grundformen kommunitären Lebens eröffnen Räume der Entschleunigung innerhalb einer effektivitätsgetriebenen Leistungsgesellschaft. Experimente mit gemeinsamem und bedingungslosem Einkommen werden am Rande eines Gottesdienstes diskutiert, der Evangelium und Lieferkettengesetz organisch zusammendenkt. Ein klassisches „Gemeinde-fest“ verwandelt sich unter Corona-Bedingungen zu „Gemeinde-bewegt“, einem „Tag der Möglichkeiten“, an dem Christ*innen und andere gemeinsam im Stadtteil nach dem guten Leben fragen.

Junge Leute radeln ältere Menschen auf einer kirchlichen Generationenrikscha durch den Stadtteil. Ein Lebensmitteltauschschrank an der Kirche wird gut frequentiert. In Kleidertauschpartys wird Kreislaufwirtschaft spielerisch erfahrbar. Ein ehrenamtlicher Reparaturservice zeigt Wege zu ressourcenschonendem Verhalten und mehr sozialem Miteinander. Eine Wanderausstellung veranschaulicht auf Grundlage biblischer Einsichten Alternativen zur gegenwärtigen Wirtschaftsweise. Im Rahmen eines Klimacamps probieren Jugendliche neue Wege des sozialen und wirtschaftlichen Miteinanders aus. Kooperationen mit NGOs wie Fridays for Future und BUND laufen an. Schritt für Schritt richtet die Kirchgemeinde ihre Beschaffung nach sozialen und ökologischen Kriterien aus.

Doch es geht um mehr als um Verbrauch und Lebensstil. Ein Reallabor soll entstehen – zukünftig noch stärker im ganzen Sozialraum, zusammen mit anderen Akteur*innen des Stadtteils –, ein Experimentierraum, der in die Gesellschaft ausstrahlt und Menschen einlädt und ihnen Mut macht, anders zu leben, zu arbeiten und zu wirtschaften. Spiritualität, Gemeindeaufbau, Lebensstil, Bildung, Vernetzung – alle Bereiche des
Gemeindelebens sollen vom „anders wachsen“-Gedanken her neu gedacht werden.

Es ist spannend, mitzuerleben, wie junge und ältere Menschen durch den praktischen Ansatz eine neue Selbstwirksamkeit erleben. Und durch das Projekt werden Kirche und christlicher Glaube in einem extrem säkularisierten Umfeld (etwa 80 Prozent der Menschen in Dresden gehören keiner Kirche an) plötzlich für Menschen und Gesellschaft in Stadt und Stadtteil relevant und als lebens- und welttransformierend erfahrbar.

Gleichzeitig wird in der Praxis deutlich, welch großen kulturellen Wandel wir uns tatsächlich vorgenommen haben; und wie viel Zeit, Geduld, Kommunikation, Respekt und Fehlerfreudigkeit es braucht, um etwas aufzubauen, das noch nicht da ist. Oft liegen
die Hindernisse gar nicht in den großen Visionen, sondern in den alltäglichen Interessenkonflikten. Gewohnter Alltag und klassische Gemeindearbeitspflichten binden ehren- und hauptamtliches Engagement. Oft genug bleibt das notwendige transformative Handeln Zusatz, der „on top“ hinzukommt.


In der Selbstverpflichtung der Kirchenvorstände heißt es: „Uns ist bewusst, dass unsere Möglichkeiten begrenzt sind und vieles nur zeichenhaft, im Sinne des prophetischen Auftrags der Kirche, geschehen kann. Die befreiende Kraft des Evangeliums bewahrt uns davor, an der Ungerechtigkeit der Welt und dem Leid, das Menschen Menschen zufügen, zu verzweifeln.“

Einige Projekte haben sich erstaunlich schnell zu Selbstläufern entwickelt. So ist der Fair-Teiler, der Lebensmitteltauschschrank am Gemeindehaus, nach kurzer Zeit kaum noch wegzudenken. Auch der GemeindekinderGARTEN wächst und gedeiht, unter engagierter Mitarbeit von Großen und Kleinen.

Die eigentliche Herausforderung ist die Verstetigung solcher Impulsprojekte, das Ändern von Gewohnheiten. Selbst wenn frisches Gemüse quasi direkt vor der Haustür wächst, treibt einen die Gewohnheit doch zum Supermarkt, und die selbst angebauten Lebensmittel bleiben Ergänzung – und das, obwohl der Bauerngarten uns schon einmal eine komplette Mahlzeit für zwanzig Leute beschert hat!

Gerade wenn es um den Wandel der Arbeitskultur auch in der Gemeinde geht, stoßen wir oft auf das Paradox, dass wir uns in die Arbeit stürzen, obwohl wir doch gerade Entschleunigung praktizieren wollen.

Gleichzeitig inspiriert der Ansatz, Alternativen zum Wachstum im Kontext von Gemeinde und Sozialraum praktisch zu leben, auch andere. In anderen sächsischen Gemeinden haben sich eigenständig „anders wachsen“-Arbeitsgruppen gebildet.

Und tatsächlich wollen wir mit unseren Fragen auch andere Gemeinden anregen, umzudenken. Was wäre, wenn es zur kirchlichen Identität gehörte, Grünen Strom zu beziehen? Wenn wir ausbeuterische Produkte als Kirche und Gemeinde boykottierten? Was, wenn wir die bedingungslose Gnade Gottes nicht nur predigten, sondern Menschen – zumindest exemplarisch-zeichenhaft – mit einem bedingungslosen Grundeinkommen von vielen Existenzängsten befreiten? Was, wenn klar wäre, dass Kirchgemeinden zugleich Tauschringe wären und an jedem Gemeindehaus ein Lebensmitteltauschschrank und ein Geschenkeregal installiert wären? Was, wenn Themen wie Repair-Café, Foodsharing, Zero Waste und Solidarische Landwirtschaft in der mehrheitlich atheistischen Stadtbevölkerung mit Kirche assoziiert würden?

Dass solche Projekte absolutes Neuland betreten, nach dem Try-and-error-Prinzip vorgehen müssen, immer nur ausschnitthaft handeln können und auch Widerstand und Rückschläge erleben, versteht sich angesichts des gesteckten gesamtgesellschaftlichen Rahmens von selbst. Und doch brauchen wir solche lebendigen Bilder, die Lust wecken, unser Leben und unsere Gesellschaft radikal zu transformieren, damit sich der Blick nicht auf den Verzicht und das zu Verlierende verengt, sondern für die große Verheißung weitet.

Die Chance, die darin für den Auftrag von Kirche und Gemeinde liegt, ist deutlich: in dieser singulären globalen Herausforderung nicht nur glaubwürdig vom Reich Gottes zu reden, sondern es auch in unserem – sicher immer nur ausschnitthaften, fehleranfälligen und ungenügenden, aber doch verheißungsgetränkten – Handeln vor Ort glaubwürdig aufleuchten zu lassen. Den Menschen die Hoffnung auf eine andere Welt leibhaft spürbar zu machen. Und ihnen so zu ermöglichen, das, was uns trägt, als wirklich gesellschaftsrelevant und lebensverändernd zu erfahren.

Wenn in der gegenwärtigen Diskussion nur von wirtschaftlichen Zwängen, apokalyptischen Szenarien und der Angst vor angeblich freiheitsberaubenden Verboten die Rede ist, haben wir als Christ*innen ein ungeheures Pfund, mit dem wir wuchern können: die Freiheit, zu der uns Christus befreit (Galater 5,1). Es ist die Freiheit der Kinder Gottes, die Freiheit vom totalen Anspruch des Leistungsprinzips, die Freiheit seiner neuen Welt, die mit Tod und Auferstehung von Jesus Christus ihren Anfang genommen hat und in der wir, gleichzeitig zu unserem Dasein in dieser Welt, glaubend schon in Ansätzen leben, wirken und atmen.

Aus dieser Freiheit heraus entsteht der Mut, unkonventionell, innovativ und widerständig neue Formen kirchlichen Lebens zu etablieren, die ganzheitliche und hoffnungsgesättigte Antworten auf die größte Herausforderung unseres Zeitalters liefern und die Gesellschaft als ganzes auf den Weg der notwendigen Umkehr locken können.

Walter Lechner

Der Text ist im Jahr 2022 als Beitrag im Magazin „anders leben“ erschienen